Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.1.2009
Der aktuelle Gaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine ist kein bilateraler Handelsstreit, wie es Moskau darzustellen versucht. Es wäre falsch, zu denken, dass uns dieses Problem erst seit dem Moment betrifft, an dem das Gas aufhörte, nach Europa zu fließen. Oder, dass wir die ganze Angelegenheit vergessen können, sobald das Gas wieder kommt. Der sich regelmäßig wiederholende Energiekonflikt in den russisch-ukrainischen Beziehungen hat einen gravierenden, die Zukunft ganz Europas betreffenden Hintergrund.
Russland nutzt die partiellen wirtschaftlichen Abhängigkeiten der ehemaligen Sowjetrepubliken zur Wiederherstellung seines Einflusses in diesem Raum. Der Gashahn ist dabei nur eines von mehreren Instrumenten. Weißrussland hat so im letzten Winter nach dem Kokettieren des Diktators Lukaschenka mit dem Westen eine ähnliche, wenn auch kürzere Krise bei den Erdöllieferungen durchgemacht. Darauf wurden die Preise erhöht und fünfzig Prozent des staatlichen Gasversorgers Beltransgas an Gasprom übertragen. Heute schöpft Minsk Gas für weniger als die Hälfte des Marktpreises, was niemanden bei Gasprom zu kümmern scheint. Ähnliche Spielchen erlebten in den letzten Jahren Georgien und die Republik Moldau bezüglich ihrer Weinexporte, als ihnen der russische und damit der bis dahin einzige Absatzmarkt durch die Regierung in Moskau von einem Tag auf den nächsten gesperrt wurde. In frischer Erinnerung hat man auch die Unterbindung der Ölexporte nach Litauen sowie der polnischen Fleischimporte, die über Monate hinweg die Beziehungen zwischen der EU und Russland belastet und die Eröffnung von Gesprächen über einen neuen bilateralen Vertrag unmöglich gemacht hat.
Während des Nato-Gipfeltreffens im letzten April äußerte Wladimir Putin gegenüber Präsident Bush, dass die Ukraine “nicht einmal ein wirklicher Staat sei” und dass ihr ein Großteil ihres Gebiets von Russland “geschenkt” worden sei. Diese Worte sind keine bloße Drohung. Sie sind langfristiges Programm, das auf den neuralgischen Punkt der europäischen Interessen im Osten Europas abzielt.
Die russische Taktik ist dabei so alt wie die Geschichte der Imperialpolitik selbst. Das System der sogenannten “freundlichen Preise”, bei dem für einen Bruchteil des Marktwertes verkauft wird, vertieft die politische Abhängigkeit der Ukraine von Russland. Undurchsichtige Verhältnisse mit einem komplizierten System von Mittelsgesellschaften schaffen ein Korruptionsmilieu, an dem eine Menge von Unternehmern und Amtsträgern verdient und das allmählich die politischen Zustände in der Ukraine zersetzt. Eine Ukraine mit der russischen Gaspistole an der Schläfe und einem fortgeschrittenen Zerfall der politischen Verhältnisse, die immer abhängiger von seinem östlichen Nachbarn würde, wäre der Albtraum für den mitteleuropäischen Raum zwischen Deutschland und Russland. Die Verwandlung der Ukraine in einen russischen Satelliten, als welcher sie die meiste Zeit ihrer Geschichte existierte, würde der vollen Wiederherstellung des Drucks Moskaus auf weitere Länder in der Region Vorschub leisten und sich damit auch auf den Zusammenhalt der Europäischen Union massiv auswirken. Es ist höchste Zeit: Die EU muss handeln.
Wichtig ist es jetzt, der Ukraine zu helfen, bei den Energielieferungen aus Russland so schnell wie möglich zu Marktpreisen zu kommen, die in langfristigen Verträgen, vergleichbar mit jenen, welche die EU mit Russland hat, auszuhandeln sind. Die EU sollte Kiew auch dazu bringen, seine undurchsichtigen Wirtschaftsstrukturen aufzuheben, da diese die Bemühungen um Reformen zur Herstellung von rechtsstaatlichen Verhältnissen untergraben. Nur ein äußerer Druck, eindeutig in den Kontext der künftigen Beziehungen der EU zur Ukraine gestellt, kombiniert mit aktiver Zusammenarbeit, kann bewirken, dass die ukrainischen Eliten ihre kurzfristigen Interessen zugunsten einer realen Unabhängigkeit von Russland sowie zugunsten eines Rechtsstaates bar der allgegenwärtigen Korruption opfern. Ohne das Aufräumen des Tisches in der Ukraine wird es der EU nicht gelingen, ihre Beziehungen zu Russland auf der Basis erkennbarer und langfristig gültiger Regeln zu ordnen. Doch nur so ist es möglich, der immer schlagkräftigeren russischen Politik gegenüber den Ländern Mittel- und Osteuropas wirksam zu begegnen.
Sobald die aktuelle Gaskrise gelöst ist, kommt die Zeit, ein neues Kapitel in der Zusammenarbeit der EU mit der Ukraine aufzuschlagen. Sollte es uns nicht gelingen, einen wirksamen Druck auf die ukrainische Führung zu entwickeln, werden wir demnächst nicht nur weitere frostige Tage mit erheblichen Folgen für die Wirtschaft einiger Mitgliedstaaten erleben, sondern vor allem eine gefährliche Verschiebung der geopolitischen Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa.
Der Autor ist Mitglied des Europäischen Parlaments. Er war Außenminister der Tschechischen Republik.