Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.08.2008, Nr. 202, S. 12, FREMDE FEDERN: Josef Zieleniec.
Die langfristig vorbereitete und kalkulierte Schwächung der territorialen Integrität Georgiens, die in die russische Anerkennung der separatistischen Provinzen und die Okkupation von beinahe der Hälfte des georgischen Gebiets mündete, ist eine Einladung Russlands an den Westen, Europa in Einflusssphären im Geiste der schlimmsten Traditionen der Realpolitik zu unterteilen.
Nicht umsonst hat der damalige Präsident Putin vor drei Jahren den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Das war keine Nostalgie, wie manche dachten, sondern ein Programm für die Zukunft. Bedenken wir jedoch, was das Streben nach der Wiederherstellung einer solchen Machtstellung Moskaus bedeutet. Es geht nicht nur um die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Moldau und Ukraine oder um die drei baltischen Staaten, die heute der EU angehören. Die Putin-Doktrin beansprucht in ihrer Konsequenz auch die Wiederherstellung des Einflusses auf die ehemaligen mitteleuropäischen Satelliten Moskaus: ein Imperium, das bis an den Bayerischen Wald reicht. Nicht zuletzt geht es auch um die Form der künftigen Beziehungen Russlands mit dem Westen, insbesondere mit Europa.
Das Fest der Sorglosigkeit, das Europa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs feierte, ist vorbei. Falls wir heute das russische Vorgehen im Kaukasus nur mit Verbalprotesten beantworten, dann bedeutet das, dass wir sein Angebot zur Schaffung von neuen Verhältnissen in Europa akzeptieren. Präsident Medwedjew hat Europa wissen lassen, dass “alles in Ordnung sein wird, falls die strategischen Beziehungen erhalten bleiben, wie es im Interesse Russlands wie auch Europas ist”.
Sollten wir die Vorstellung Moskaus darüber, wie die strategische Partnerschaft mit Europa auszusehen hat, akzeptieren, könnten wir in wenigen Monaten mit einem Konflikt konfrontiert sein, der uns noch unmittelbarer betreffen wird. Denken wir nur an die winterlichen Versuche, die Situation in der Ukraine durch den Gashahn zu beeinflussen, an die Anwesenheit der russischen Flotte auf der Krim, wo eine starke russische Minderheit lebt, an die “Friedenstruppen” in Transnistrien oder an das Nichtvorhandensein einer anerkannten estnisch-russischen Grenze, die heute die Außengrenze der EU ist. Eine Wiederherstellung der Einflusszonen würde das Milieu der Stabilität, des Rechtsstaates und des Vertrauens in die Demokratie in Europa untergraben – und damit die Pfeiler, auf denen der europäische Integrationsprozess seit Jahrzehnten gründet.
Die Staats- und Regierungschefs der EU, die sich am 1. September in Brüssel treffen, dürfen dies nicht zulassen. Anstelle von Verbalprotesten muss Russland klar gezeigt werden, dass das Schaffen von Einflusszonen im Europa des 21. Jahrhunderts nicht akzeptiert wird. Russland muss vor eine eindeutige Wahl bezüglich seiner künftigen Beziehungen zur EU gestellt werden: Falls es die durch seine Unterschrift unter die Vereinbarung vom 13. August übernommenen Verpflichtungen nicht einhält und nicht alle seine Militäreinheiten vom georgischen Territorium auf die Stellungen vom 7. August zurückzieht, reduziert die EU ihre Zusammenarbeit mit Moskau. Insbesondere wären dann die Verhandlungen über das neue EU-Russland-Abkommen einzufrieren und die Anwendung des Visaerleichterungsabkommens einzustellen. Russland sollte auch eine starke Friedensmission der EU akzeptieren, die die Einhaltung der durch die französische Ratspräsidentschaft ausgehandelten Vereinbarungen sowie der Rechte der auf georgischem Territorium lebenden Minderheiten zu überwachen hätte. Sie würde die russischen Einheiten ersetzen, deren Friedensmandat nach den letzten Ereignissen vollkommen diskreditiert ist.
Das Hauptziel des Gipfeltreffens sollte jedoch im klaren Signal an Russland bestehen, dass die Europäische Union kein Papiertiger mehr ist, den man nicht ernst zu nehmen braucht. Die Führung der EU sollte ihren Willen deklarieren, schleunigst die institutionellen Lücken zu beseitigen, die die Einheit und Handlungsfähigkeit Europas am meisten beschränken. So sollte eine beschleunigte Anwendung der Elemente des Lissabonner Vertrages vereinbart werden, die das Funktionieren der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verbessern, eine gemeinsame Energiepolitik errichten und die Verteidigungszusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten stärken, einschließlich des Willens, die Solidaritätsklausel im Falle eines Angriffs auf einen der Mitgliedstaaten voll anzuwenden.
Präsident Medwedjew hat anlässlich der Unterzeichnung der Anerkennung von Südossetien und Abchasien Klartext gesprochen: “So der Westen gute Beziehungen mit Russland erhalten möchte, wird er unsere Entscheidung verstehen müssen.” Jetzt liegt es an der Führung der EU, dem russischen Präsidenten deutlich zu machen, dass wir das Angebot einer neuen Aufteilung des Kontinents nicht akzeptieren.
Der Autor ist Mitglied des Europäischen Parlaments. Er war Außenminister der Tschechischen Republik.