Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2007, Nr. 113, S. 12, FREMDE FEDERN: Josef Zieleniec
Das bevorstehende Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und Russland in Samara hat eine vielschichtige Agenda. Sie reicht vom Partnerschaftsabkommen, das von Polen als Reaktion auf das russische Fleischembargo blockiert wird, über die Statusfrage des Kosovo und Wege aus dem eingefrorenen Konflikt in Transnistrien bis zur Zustimmung der EU zum russischen Beitritt zur Welthandelsorganisation. Der wichtigste Punkt jedoch steht nicht im offiziellen Programm: In Samara geht es um nichts Geringeres als um das künftige Schicksal der politischen Gemeinschaft Europas.
Über Jahrhunderte hinweg hielten russische Herrscher Mittel- und Osteuropa für ihren natürlichen Einflussraum. Diese Auffassung gehört bis heute zu den Pfeilern der russischen Staatsräson, ohne dass daran der EU-Beitritt der jungen Demokratien etwas geändert hätte. Es war kein Zufall, dass Präsident Putin in April 2005 den Zusammenbruch der Sowjetunion als “die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts” bezeichnet hat. Hier zeigte sich nicht Wehmut über den Untergang des Kommunismus, sondern die Ansicht, dass Russland damit von der Logik seiner Geschichte wegrückte, die gerade durch die Sowjetunion die bisher größte Erfüllung erfahren hatte. Die alltägliche Politik des Kreml-Herrschers zeigt, dass seine Worte keine Vergangenheitsnostalgie waren, sondern Skizze eines Zukunftsprogramms.
Russland bestreitet systematisch das Recht seiner ehemaligen Satelliten auf souveräne Bestimmung. Es nutzt jede Gelegenheit, um sie vom Rest der EU zu trennen und gegen westeuropäische Mitgliedstaaten auszuspielen. Die schwere Krise um die Denkmalverlegung in Estland, militärische Drohungen in Reaktion auf den geplanten Aufbau des Raketenabwehrsystems, Blockade von Fleischimporten aus Polen, wiederholtes Einsetzen des Gashahnes als politischen Knüppel – das alles sind nur Beispiele der letzten Zeit. Wenn zum Beispiel Österreich ein ähnliches Denkmal verlegen, Norwegen eine Raketenabwehrstation aufbauen wollte oder Dänemark Schwierigkeiten mit der Ursprungsbestimmung seiner Fleischexporte hätte, bliebe das wohl ein Randgebiet der russischen Aufmerksamkeit. Im Verhältnis zu ehemaligen Staaten des Sowjetimperiums spitzt jedoch der Kreml die Situation bis zur ernsten politischen Krise zu.
Lassen wir uns nicht beirren. Es geht hier nicht um die Befriedigung russischer innenpolitischer Bedürfnisse oder um Russlands Beziehungen zu Estland, Polen oder der Tschechischen Republik. Es geht um eine Belastungsprobe der Europäischen Union, ihres politischen Willens und vor allem ihres Zusammenhalts. Sollte diese russische strategische Erkundung ein geopolitisches Machtvakuum entdecken, erwartet Europa eine unruhige Zukunft.
Deutschland, das gegenwärtig die EU-Präsidentschaft innehat, bemüht sich um die Wiederherstellung des Vertrauens der Europäer in das gemeinsame Integrationsprojekt. Die Berliner Deklaration sollte die Europäer an Werte- und Ideengrundlagen der Union erinnern und ihr Bekenntnis zur gemeinsamen Bewältigung der Herausforderungen stärken, um eine Einigung über die Verfassungsreform als Grundlage einer weitreichenden politischen Gemeinschaft zu erlangen.
Putins Versuch, Europa das traditionelle post-westfälische Machtschema der bilateralen Beziehungen mit europäischen Großmächten aufzuzwingen, steht im direkten Widerspruch zur Vision der EU als einer auf gemeinsamen Werten basierenden politischen Union.
Bundeskanzlerin Merkel warnt zu Recht vor einem historischen Fehler, sollte kein Weg aus der Verfassungskrise gefunden werden. Eine gemeinsame Identität als einzig mögliche Grundlage eines europäischen Verfassungssystems entsteht jedoch nicht durch das Aufstapeln gründlich durchgearbeiteter Papiere und durch den vielfältigen Gebrauch erhabener Worte. Der einzige schlagkräftige Beweis für die Existenz gemeinsamer Werte ist, dass Europa an sie glaubt und im Einklang mit ihnen geschlossen handelt.
Deutschland sollte auf Grund seiner geopolitischen Lage und Geschichte über ein Gespür für den Zusammenhang zwischen der Vertiefung der politischen Union und der Festlegung der Beziehungen zu einem Akteur verfügen, der über Jahrhunderte die Entwicklung Europas mitbestimmt hat. Das Pathos der Berliner Feierlichkeiten drohte lächerlich zu werden, die Vision einer politischen Union verlöre sich im Endlosen, sollte beim Gipfel in Samara Putin von der Bundeskanzlerin nicht erfahren, dass die Konflikte, die er mit seinen Nachbarn anstachelt, in Wirklichkeit Konflikte mit der Europäischen Union sind. Und dass die EU als Ganze bereit ist, daraus Konsequenzen zu ziehen.
Der Verfasser ist Mitglied des Europäischen Parlaments. Er war von 1993 bis 1997 Außenminister der Tschechischen Republik.